„Der Herzinfarkt ist nicht vorhersehbar“
Prof. David M. Leistner über Risikofaktoren, Vorsorge und ungelöste Rätsel der Medizin
Seit gut einem Jahr ist Professor David M. Leistner Direktor der Klinik für Kardiologie und Angiologie an der Universitätsklinik Frankfurt. Barbara Schmidt sprach anlässlich der Deutschen Herzwoche mit ihm über neue Ansätze, Herzinfarkten präventiv zu begegnen.
Herr Professor Leistner, laut der Deutschen Herzstiftung erleiden jedes Jahr rund 300 000 Menschen in Deutschland einen Herzinfarkt. Wie viele Infarkte behandeln Sie pro Jahr hier in der Uniklinik?
Etwa 450. Das schwankt so ein bisschen in Abhängigkeit von der Jahreszeit und der Versorgungssituation. Wir haben zwar in der Region recht viele Krankenhäuser, aber vor allem aufgrund des Pflegemangels sind nicht immer überall genug Ressourcen da, die Patienten auch zu versorgen. Da bleibt dann die Uni-Klinik. So ist tendenziell die Zahl bei uns eher steigend, aber nicht, weil es so viel mehr Fälle gibt, sondern weil sich das in der Region etwas verschiebt.
Im Grunde wissen doch die meisten zumindest grob, was das Risiko für Herz- Kreislauferkrankungen erhöht. Dass Rauchen, Übergewicht, Bewegungsmangel und negativer Stress dem Herzen nicht gut tun, ist lange bekannt. Warum sind die Zahlen dann noch immer so hoch?
Wir unterscheiden heute zwischen modifizierbaren und nicht modifizierbaren Risikofaktoren, also veränderbaren und unveränderbaren Faktoren. Wir wissen, dass ungefähr 70 Prozent des Gesamtrisikos durch modifizierbare Faktoren bedingt sind. Dazu zählen Rauchen, Übergewicht, hoher Blutdruck, Diabetes, erhöhtes Cholesterin. Da sind wir in Deutschland noch immer nicht gut, weil wir zum Teil gar nicht konkret wissen, dass wir diese Risikofaktoren haben und - für mich noch schlimmer - wir um die Risikofaktoren zwar wissen, aber sie zum Teil nicht konsequent behandeln. Das ist das eine Problem.
Und das andere?
Das zweite sind die genetischen Faktoren. Sie sind das Restrisiko, das man nie ganz abgestellt kriegt. Die Kombination von beidem sorgt dafür, dass wir anhaltend eine hohe Zahl an kardiovaskulären Events, also Herz-Kreislauf-Problemen bis hin zum Infarkt, in Deutschland haben.
Was genau passiert bei einem Herzinfarkt eigentlich im Körper?
Der Herzinfarkt entsteht nicht von jetzt auf gleich, sondern ist ein Prozess von jahrzehntelangen Veränderungen zumeist der Herzkranzgefäße. Es bilden sich sogenannte Plaques. Das heißt, in der Wand unseres Gefäßes kommt es zu Ablagerungen. Ich sage den Patienten immer: Die Plaques sind wie eine Atombombe, die unter einem Betonmantel liegt. Beim Herzinfarkt passiert eigentlich Folgendes: Dieser Deckel wird porös, beziehungsweise dieser Deckel wird aktiviert, und dadurch kommt es zur Anlagerung eines Blutgerinnsels an dieser Plaque und damit zum Verschluss eines Gefäßes. Das ist dann der Herzinfarkt. Es ist wichtig, das zu verstehen. Der Herzinfarkt ist nicht vorhersehbar. Wir alle haben ab einem gewissen Alter Plaques - und zwar nicht einen, sondern in vielen Fällen zahlreiche. Aber bis dato - und das ist aus meiner Sicht eigentlich die größte zu lösende wissenschaftliche Fragestellung - wissen wir nicht, welcher Plaque ein Problem macht und welcher kein Problem macht.
Also gibt es bessere und schlechtere Plaques?
Ja, das ist in der Tat so. Es gibt stabilere und instabilere Plaques. Aber selbst bei den instabilen hat die Medizin noch nicht verstanden, warum einige zum Teil über Jahre nicht aktiviert werden und andere werden aktiviert. Da spielt sicher das Immunsystem eine ganz zentrale Rolle. Daran forschen wir und andere im Moment sehr intensiv, wie man das über eine Beeinflussung des Immunsystems steuern könnte.
Welche Rolle spielen Infekte?
Ein guter Punkt, den Sie da ansprechen. Infekte führen zu einer Aktivierung des Immunsystems und das scheint bei der Aktivierung einer Plaque ganz zentral zu sein. Speziell für die Virusgrippe ist es gezeigt worden, dass während einer solchen das Risiko, einen Infarkt zu erleiden, etwa vier Mal so hoch ist. Die gute Nachricht: Wenn ich gegen Grippe geimpft bin, kann ich dadurch auch mein Risiko als Herzpatient reduzieren.
Hat da die Erfahrung mit Covid-Infektionen der Forschung noch mal einen Schub gegeben?
Das ist richtig, weil man dem Immunsystem und der Funktion des Immunsystems einen anderen Stellenwert, auch wissenschaftlich, beimisst. Dass das Immunsystem und eine Entzündungsreaktion bei der Entstehung des Herzinfarkts eine Rolle spielt, weiß man schon seit Ende des 19. Jahrhunderts von Rudolph Virchow. Aber der Fokus auf das Immunsystem ist durch Corona noch mal verstärkt worden.
Sie haben in der Kardiologie der Uni-Klinik ein Präventionszentrum gegründet. Was ist dessen Ansatz?
Der Ansatz ist, dass es bei Prävention eben nicht darum geht, jeden präventiv zu behandeln. Es geht vielmehr darum, genau zu erfassen: Wie ist denn das individuelle Risiko des Einzelnen? Das ist eng mit der Frage verknüpft, welche modifizierbaren und auch nichtmodifizierbaren Risikofaktoren hat ein Patient. Die genetischen können wir noch nicht verändern, aber umso wichtiger ist es, sie zu testen. Das machen wir. Und dann kommt es darauf an, dass man alle modifizierbaren Faktoren sehr konsequent und aggressiv einstellt, also nicht nur sagt, es gibt sie und da macht man ein bisschen was dran. Gerade für das Cholesterin ist es gezeigt, dass man durch eine aggressive Einstellung Menschenleben retten kann. Eine weitere Besonderheit des Präventionszentrums: Wir können jede Therapie, die zur Risikosenkung beiträgt, dort anbieten und die für den einzelnen Patienten auf sein spezielles Risiko zugeschnittene Präventionsstrategie umsetzen.
Das sind also alles Menschen, die schon mit einer gewissen Vorgeschichte kommen?
Genau. Das sind Hochrisikopatienten, entweder weil sie schon eines oder mehrere Events hatten, oder weil sie angeboren ein erhöhtes Risiko haben wie eine Fettstoffwechselstörung.
Bei Prävention setzt der Laie erst mal viel niedriger an...
Wir unterteilen zwischen Primär- und Sekundärprävention. Die Grenzen sind ab einem gewissen Punkt fließend. Ich glaub’, die wichtige Message ist: Prävention ist nicht Äpfel essen und Sport machen. Das ist auch wichtig, und es ist auch gut, dass man sich gesund ernährt und körperlich aktiv ist. Das sollte eigentlich jeder machen. Aber bei Hoch- und Höchstrisikopatienten ist das überhaupt nicht ausreichend präventiv. Hier ist es wichtig, dass man früh gezielt, kausal die Risikofaktoren einstellt und behandelt. Mit dieser Einschätzung stehe ich nicht allein. Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie hat diesen Grundsatz in die Politik gebracht und mit Gesundheitsminister Prof. Lauterbach sind wir dabei, für Deutschland eine Art Präventionsplan umzusetzen. Die Bevölkerung soll ganz konsequent über ihr Risiko informiert werden und das Risiko früh angegangen werden können.
Das heißt, alle müssen dafür zum Hausarzt gehen?
Das ist in der Tat der Plan. Festgelegt werden soll einmal im Kinder- und Jugendalter ein Screening auf eine genetische Fettstoffwechselstörung im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen. Da haben wir bisher ganz viele Fälle, die übersehen werden. Ähnlich sollen mit dem 40. oder 50. Lebensjahr einmal Fettwerte, Blutdruck, Nierenfunktion bestimmt werden. So können sie ab dem Punkt auch entsprechend behandelt und eingestellt werden.
Ein Muss?
Nein, eine Einladung. Es geht darum, den Menschen zu verdeutlichen, was Prävention bedeutet und dass sie selber das in die Hand nehmen müssen. Damit können sie Ereignisse, die sehr tragisch, lebenseinschränkend oder eben auch tödlich sind - und das sind sie jeden Tag in Deutschland - wirklich aktiv verhindern.
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